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Amok 2.0 – Neue Perspektiven für Polizeipraxis und Pressearbeit

Podiumsdiskussion

Bei Amoktaten handelt es sich um sehr seltene, aber meist enorm folgenschwere Gewaltvorfälle. Sie traumatisieren die betroffenen Gesellschaften, in denen sie stattfinden und erzeugen eine länderübergreifende mediale Aufmerksamkeit. Spätestens seit am Vormittag des 26. April 2002 ein Jugendlicher an seiner Schule in Erfurt 16 Menschen tötete und sich dann suizidierte, wurde deutlich, dass bislang umgesetzte polizeiliche, psychologische und pädagogische Konzepte überdacht werden mussten. Optimierte polizeiliche Dienstvorschriften, schulische Richtlinien und psychologische Vorgehensweisen erzeugten in der Folge eine deutliche Verbesserung der Sicherheitslage für die Intervention und Prävention von schweren zielgerichteten Gewalttaten an Schulen, aber auch in anderen Institutionen. Insbesondere die kontinuierliche Aus- und Fortbildung für den polizeilichen Einsatz ist in diesem Kontext eine wichtige Voraussetzung für kompetentes Handeln im Ernstfall.

Präsident Grieger bei der Eröffnung des Wissenschaftstages 2015In den letzten Jahren hat die Amokforschung jedoch neue Erkenntnisse gewonnen und neue Herausforderungen identifiziert. Relevant sind hier insbesondere Studien zur Verbesserung der Früherkennung, zur Reduzierung der Nachahmungswirkung und zur Rolle von Social Media bei der Einsatzbewältigung. Vor diesem Hintergrund wurde der 9. Tag der Wissenschaft am 12. November genutzt, um an der Fachhochschule der Polizei über den Tellerrand des Amoklagentrainings hinauszublicken und neue Praxis-Perspektiven zu eröffnen.

Nachdem der Präsident der HPol Rainer Grieger die Teilnehmerinnen und Teilnehmer begrüßt sowie einen thematischen Einstieg vermittelt hatte, erläuterte Prof. Dr. Frank Robertz in seinem Referat zunächst die psychosoziale Entwicklung von Amoktätern und vermittelte praxisorientierte Möglichkeiten der Früherkennung im Vorfeld von Amoklagen. Dabei nutzte er Erkenntnisse aus den Disziplinen der Soziologie, Psychologie, Psychiatrie, Pädagogik und Kriminologie, um die Persönlichkeitsentwicklung der Täter und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von derart exzessiven Gewaltakten nachvollziehbar zu machen. Prof. Dr. Robertz beim VortragEinen Schwerpunkt legte er auf die Rolle von Gewaltphantasien, welche wichtige Hinweise zur Früherkennung von kritischen Entwicklungen erlauben. Er schloss seinen Vortrag mit konkreten Möglichkeiten ab, wie die noch junge Disziplin des Bedrohungsmanagements aus polizeilicher Perspektive zur Prävention und Verhinderung von derartigen Taten beitragen kann.

Gemeinsam mit Herrn Robert Kahr, der als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet „Einsatzlagen der Schwerkriminalität“ an der DHPol tätig ist, zeigte Prof. Dr. Robertz dann nach einer kurzen Pause spezifische Wege auf, um die Kommunikationsfähigkeit bei Lagen der Schwerkriminalität aufrechtzuerhalten.

Generell müssen Medien nach schweren Gewalttaten den Erwartungen ihres Publikums genügen, und widmen dem Täter daher eine besondere Aufmerksamkeit. Neben den Gefahren einer Anfälligkeit für Falschmeldungen, Verletzung von Persönlichkeitsrechten und Belastung von Opfern, schafft eine solche besondere Berücksichtigung des Täters zusätzliche gravierende Gefahrenquellen. Einerseits kann dem Täter ein Forum zur Selbstinszenierung, der Proklamation seiner Ziele oder der Mobilisierung von Nachfolgern geboten werden, andererseits können Nachahmungstäter zu weiteren Gewalttaten inspiriert werden. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt diesbezüglich, dass Täter sowohl situativ auf die Anwesenheit von Medien reagieren können, als auch die Kommunikation mit der Presse bereits zielgerichtet als festes Element ihrer Tatplanung berücksichtigen. Daher erweist es sich generell für Sprecher von Behörden und insbesondere bei der polizeilichen Pressearbeit im Kontext von schweren Gewalttaten als immens wichtig, die destruktive Inszenierung des Täters zu verhindern und die Wahrscheinlichkeit von Nachahmungstaten zu senken. Hierzu stellten die beiden Referenten zum Abschluss ihres Vortrags hilfreiche Empfehlungen für eine verantwortungsbewusste Berichterstattung nach schweren Gewaltvorfällen dar, die auf ihren jüngsten Forschungserkenntnissen beruhen.

Herr Kahr beim VortragIm letzten Vortrag des Tages diskutierte Herr Kahr Implikationen, die sich durch die Nutzung von Social Media bei der Einsatzbewältigung von Lagen der Schwerkriminalität ergeben. Er thematisierte strategische und taktische Konzepte, die sowohl für Amoklagen, als auch für andere Schwerkriminalitätslagen einschlägig sind. Es wurde deutlich, dass die neuen Formen der weltweiten Visualisierung insbesondere für Polizeiführer ein erhebliches Problemfeld darstellen, das bei Beurteilung der Lage und Entschlussfassung unbedingt berücksichtigt werden sollte. Grundlage der Erläuterungen war das aktuelle DHPol-Forschungsprojekt SCARSOME, dass sich mit der Rolle von Social Media im Kontext von Schwerkriminalität beschäftigt.

Die Vielzahl der Anregungen wurde abschließend in einer vom Vize-Präsident der HPol, Herrn Dr. Jochen Christe-Zeyse, geleiteten Podiumsdiskussion aufgegriffen und vertieft. Dabei wurden auch die Zuhörer im Saal aktiv eingebunden. Neben den Referenten und dem Moderator nahmen als Fachleute an der Podiumsdiskussion Herr Polizeidirektor Carsten Gräfe (Polizei Berlin – Abschnittsleiter A 33), der seit vielen Jahren mit Sonderaufgaben in der Amokprävention betraute PHK Thomas Weiss (Polizei NRW – KPB Rhein-Sieg-Kreis) sowie der Gewaltforscher und HPol-Dozent Dr. Dr. Karl-Heinz Fittkau teil.

Um die thematisierten Herausforderungen an die Polizeiarbeit zu vertiefen, wurde am Tag der Wissenschaft neben zahlreichen Handouts auch ein Büchertisch bereitgestellt. Zudem wird zu Beginn des kommenden Jahres unter dem Titel „Die mediale Inszenierung von Amok und Terrorismus“ beim Springer Verlag (Heidelberg) ein Sachbuch mit den Forschungsergebnissen der beiden Referenten erscheinen.

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